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Gedanken zum Kontrollverlust

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Der folgende Texte ist drüben bei diesesinternet erschienen und auch dafür entstanden. ich bin selber noch nicht restlos überzeugt von dem, was ich geschrieben habe – aber wenn der Texte ohnehin schon in diesem Internet drin steht, dann kann ich ihn auch hier crossposten. Vielleicht bekomme ich ja kluge Resonanz und bin hinterher klüger. Oder auch nicht.

Die aktuelle Seminar-Aufgabe lautet: Schreib’ etwas über Michael Seemann1, den Kontrollverlust oder Wikileaks.

Ich leite deshalb so unelegant ein, weil ich andernfalls Schwierigkeiten hätte zu erklären, warum ich gerade jetzt über Seemann, den Kontrollverlust oder Wikileaks schreibe. Irgendwie fehlt der aktuelle Aufhänger – also tue, was ich meistens tue, und versuche, Seemanns Kontrollverlust anhand seines carta-Artikels darüber zu analysieren und zu kritisieren. Ein wenig Aktualität erhält das Thema eventuell durch die Gesichts-Tagging-Versuche bei Musikfestivals.

Seemann definiert den Kontrollverlust wie folgt:

„Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt.“

Subjektiver Begriff – gesellschaftliches Phänomen

Das ist eine durchaus spannende Definition, sie birgt aber gerade für die politische Betrachtung ein großes Problem, weil sie auf das subjektive Ermessen abstellt: Wenn entscheidend die Vorstellungsfähigkeit eines Subjektes ist, dann ergibt es keinen Sinn, über den Kontrollverlust als gesellschaftliches Phänomen nachzudenken. Und dann hört der Kontrollverlust in dem Moment auf zu existieren, in dem das Subjekt nicht über ihn nachdenkt. Diese Definition ist aus konstruktivistischer Perspektive durchaus nicht unschlüssig – sie ist aber nicht brauchbar, möchte man den Kontrollverlust als gesellschaftliches Phänomen denken oder als Herausforderung für die Gesellschaft.

Lösen lässt sich dieses Problem eigentlich nicht, umgehen aber insofern, als der Begriff des Kontrollverlusts dann an Relevanz gewinnt, wenn man ihm eine Zusatzannahme an die Seite stellt, die da lautet: Das Phänomen tritt immer häufiger auf.
Das gibt die obige Definition an sich nicht her und Seemann macht auch nirgends ganz klar, dass es sich um eine Zusatzannahme handelt; aber natürlich ist dieser eigentlich entscheidende Schritt praktisch hilfreich. Er erlaubt es nämlich, darüber nachzudenken, was es bedeutet, wenn immer mehr Menschen immer häufiger nicht ermessen können, auf welche Weise Daten (über sie) interagieren können – und mit welchem Ergebnis.

Die Definition setzt außerdem implizit voraus, dass die Komplexität von Informationsinteraktionen jemals wirklich vorstellbar waren – was begründet bezweifelt werden kann. Sie muss das aber voraussetzen, denn andernfalls wäre der Kontrollverlust ein immerwährendes Phänomen – und die Definition damit unscharf.

Drei Gründe für den Kontrollverlust

Natürlich ist sich Seemann der Probleme bewusst („tatsächlich ist es nicht einfach, eine passende Definition [...] zu liefern“) und das, was ich eben als Zusatzannahme bezeichnet habe, führt er denn auch als These ein, die er zu illustrieren versucht:

„Das [der Kontrollverlust. Anm. JS] ist an sich nichts völlig Neues, wir kennen das. Meine These ist aber nun, dass das Internet und die digitale Technik diese Kontrollverluste sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in der Intensität ihrer Folgen um ein Vielfaches steigert. Dafür gibt es verschiedene Gründe.“

Diese Gründe sind zusammengefasst:

1. Die steigende Masse an Daten durch die Allgegenwart von Aufzeichnungssystemen.
2. Die steigende Agilität der Daten durch deren sinkende Transaktionskosten.
3. Die steigende Verknüpfbarbeit [sic] von Daten.

Wir wollen nun also jenseits der definitorischen Probleme annehmen: Die Verbreitung von Aufzeichnungssystemen sorgt stetig für ein Wachstum der Datenmassen, die gleichzeitig immer beweglicher und verknüpfbarer werden – und all das jenseits dessen, was sich ein normaler Mensch vorstellen kann.

Autonomiegewinn in der Query-Öffentlichkeit

Seemann führt schließlich aus, dass für ihn mit dem Kontrollverlust auch ein Gewinn an Autonomie einhergeht. Öffentlichkeit müsse künftig vom Empfänger her gedacht werden. Neue Öffentlichkeiten, Query-Öffentlichkeiten, nach den Querys, den Suchanfragen in Datenbanken – solche Query-Öffentlichkeiten entstehen erst durch Aktivität des Empfängers, der sich seine Filterstellen und Filterkriterien selbst zusammenstellt. Öffentlichkeit ist nicht mehr, was der Sender in einen öffentlichen Raum trägt, sondern Öffentlichkeit ist, was sich ein Empfänger zusammenstellt.
Aus dieser Art, Öffentlichkeit zu denken, ergeben sich, so Seemann, auch Möglichkeiten für eine neue Informationsethik, die er Filtersouveränität nennt. Diese Ethik werde sich, so die Prognose, durchsetzen und sei daher der vierte und entscheidende Grund für den Kontrollverlust.

„Mit diesem Umdenken von Öffentlichkeit kehren sich auch eine ganze Reihe von Wertpräferenzen um und bereiten damit den Weg für eine andere Informationsethik.

Wenn sich – erstens – Information aufgrund ihrer billigen Speicherbarkeit nicht mehr für ihre Existenz rechtfertigen muss und wir – zweitens – annehmen, dass die Querys, die man auf einen Datensatz anwenden kann, in ihren Möglichkeiten unendlich sind, gibt es plötzlich keine legitime Instanz mehr, die sich anmaßen könnte zu entscheiden, was wichtige, unwichtige, gute oder schlechte Information ist. Das Zusammenstellen von Querys und Präferieren von Filtern wäre das radikale Recht ausschließlich des Empfängers.

Gleichzeitig befreien diese unvorhersehbaren, weil unendlichen Querys auch den Sender der Information. Sie befreien ihn davon, Erwartungen entsprechen zu müssen. Denn der Andere kann, weil er in unendlichen Quellen mit perfekt konfigurierbaren Werkzeugen hantiert, keinen Anspruch mehr an den Autor stellen – weder einen moralisch-normativen noch einen thematisch-informationellen. Die Freiheit des Anderen, zu lesen oder nicht zu lesen, was er will, ist die Freiheit des Senders, zu sein, wie er will.“

Keine Filterinstanz ist mehr legitimiert zu entscheiden, was relevant ist oder gut

Ganz allgemein krankt diese Passage ein wenig daran, dass nicht klar wird, was Beschreibung ist und was Forderung. So wie ich sie aber verstehe, halte ich die Argumentation für falsch.

Erstens: Aus der unbegrenzten Speicherkapazität und der Unendlichkeit der möglichen Querys an einen Datensatz folgt moralisch nichts. Die Frage, ob eine Instanz entscheiden soll, was wichtig oder gut ist, ist davon unberührt. Aufgrund dieser beiden Tatsache gebe es, schreibt Seemann, plötzlich keine legitime Filterinstanz mehr – ich halte das für einen Fehlschluss. Es ist das bekannte Argument: Was ich oder jeder andere als das betrachtet, das sein soll, ist unabhängig von dem, was ist. Allein aus der Tatsache, dass Informationskapazitäten etwa zur Zeit des frühen Rundfunks begrenzt waren und also einige Sender alleiniges Anrecht auf die Frequenzen hatten, folgte auch damals nicht zwingend, dass diese Instanzen legitim waren (allenfalls gesellschaftlich legitimiert). Umgekehrt würde eine als legitim betrachtete Instanz nicht dadurch delegitimiert, dass es jetzt Frequenzen und Frequenz-Äquivalente in Hülle und Fülle gibt.

Nicht, dass ich Seemann nicht prinzipiell zustimmen würde in seiner Forderung – nur halte ich die Begründung für falsch. Ich würde sogar behaupten, es gibt gar keine allgemein zu akzeptierende Begründung dafür, und es muss sie auch nicht geben.

Zweitens: Daraus, dass der Query-Steller unendliche Möglichkeiten hat, seine perfekt konfigurierbaren Werkzeuge in unendlichen Quellen einzusetzen (was ich als Beschreibung bezweifeln wollte), folgt ebenfalls nicht, dass der Urheber einer Information von jedem Anspruch an ihn befreit würde.
Man kann durchaus argumentieren, dass Urheber von Informationen sich keinerlei Erwartungen stellen müssen sollen. Nur: Das hat wieder nichts damit zu tun, was es an Querys und Instrumenten und Quellen gibt.

Was folgt aus dem Kontrollverlust?

Seemann prognostiziert schließlich:

„Und das wäre also der letzte Grund, der vierte und endgültige, für den Kontrollverlust: Der Wertewandel durch die Filtersouveränität wird dafür sorgen, dass der Mensch den Kontrollverlust nicht nur in Kauf nimmt, sondern sogar gegen alle Widrigkeiten verteidigen wird.“

Kann sein. Oder auch nicht.
Die viel spannendere Frage ist aber ja ohnehin: Was ergibt sich daraus? Und: Wollen wir das?
Was ergibt sich? Mit dem Kontrollverlust, wenn wir ihn annehmen, gehen, meine ich, durchaus Gefahren einher.
Für Regierungen und Organisationen bedeutet er genauso wie für Private, dass jedes Handeln, und sei es im kleinen Kreis ausgeführt, potentiell auf den Handelnden zurückfeuern kann. Sei es allein deshalb, weil es an die Öffentlichkeit gelangt, sei es, weil es im Zusammenspiel mit anderen Daten ein kompromittierendes oder für kompromittierende Zwecke instrumentalisierbares Bild kreiert. Das erzeugt Unwissen und damit Unsicherheit.

Im Privaten finden sich zahllose Beispiele. Ein Triviales: Zum Beispiel sitze ich gerade hier, schreibe (weil ich muss) unter Klarnamen (weil ich will) aus dem Stegreif einen Blogbeitrag über den klugen Blogbeitrag eines anderen und bin mir nicht sicher, ob das, was ich schreibe, ebenfalls klug ist. Es wird zwar vermutlich auf dem kleinen Nischen-Seminar-Blog versickern – aber vielleicht eben auch nicht. Ich kann nicht ermessen, wer diesen Text lesen wird, wer ihn womit verknüpfen wird und welche Informationen er oder sie so über mich gewinnt, zu welchen Urteilen er oder sie kommt.
Im Bereich des Politischen ließe sich die Wikileakssche Gretchenfrage stellen: Sag, wie hältst du’s mit der Transparenz? Braucht demokratische Politik radikale Öffentlichkeit – oder kann die Logik des besten Arguments im Habermasschen Sinne wirklich nur in verschlossenen Hinterzimmern greifen und die kosequentialistische Logik durchbrechen?

In jedem Fall kommen wir als Gesellschaft um eine Frage nicht herum, selbst wenn es wahr ist, was Seemann an technischen Entwicklungen ausmacht: Wollen wir so leben? Wollen wir den Kontrollverlust wirklich?
Zu sagen: Es ist so, findet euch damit ab, lebt damit, ist die völlige Kapitulation des Politischen, so wie jede Verweigerung des Denkens in Alternativen und jeder Versuch, die Positionierung durch das Ducken hinter vermeintlich unhintergehbare Fakten zu verschleiern eine Kapitulation des Politischen ist.

In Bezug auf politische Institutionen sehe ich noch geringere Gefahren und größere Verheißungen, weil ich mehr Transparenz und damit mehr Kontrollmöglichkeiten bei gesellschaftlichen Aushandlungen von Wertezuweisungen (also von Politik) begrüße. Die prozeduralen (Legimitations-)Gewinne der freien Gesellschaft überwiegen gegenüber den etwaigen Effizienz-Verlusten der Wertezuweisung. So weit, so gut.

Wenn Eric Schmidt sagt, wer nicht wolle, das eine Handlung öffentlich werde, der solle sie eben bleiben lassen, dann mag er einen wirksamen (wenngleich kaum einzuhaltenden) Schutzmechanismus für den Einzelnen gegenüber Peinlichkeit und Gesichtsverlust formulieren. Selbst diese radikale Handlungsmaxime versagt allerdings, wo nicht zählt, wie ich mein Handeln bewerte, sondern wo allein zählt, wie andere mein Handeln bewerten, weil daraus Konsequenzen erwachsen, die ich nicht ignorieren kann: weil ich eingesperrt werde oder körperlich angegriffen oder systematisch von Teilhabe abgeschnitten. Das ist vor allem brisant, wo strukturelle Machtasymmetrien bestehen, vor allem gegenüber dem Staat – oder in Systemen, in denen Gewaltanwendung nicht erfolgreich staatlich monopolisiert ist.

Hier, in Deutschland im 21. Jahrhundert, funktioniert das. Hier hat der Staat das Gewaltmonopol und ich kann den obersten Repräsentanten dieses Staates scharf kritisieren, ohne Repression durch staatliche oder außerstaatliche Kräfte fürchten zu müssen. Das ist beeindruckend und wunderbar. Aber es ist nicht die Regel.
Anders gesagt: Das gefahrlose Bekenntnis zum Kontrollverlust funktioniert nur unter bestimmten politischen Bedingungen, derzeit in liberalen pluralistischen Demokratien. Unter anderen Bedingungen kann schon ein falscher Blogbeitrag handfeste Konsequenzen haben. Und hier sind wieder bei der Machtasymmetrie: Auch mächtige repressive politische Bewegungen müssen den Kontrollverlust zwar fürchten; für sie hat das Publikwerden bestimmter Informationen aber weniger dramatische Folgen als für das machtlose Individuum.
Im Grunde setzen auch viele Datenschützer an genau diesem Punkt an, wenn sie mit vielleicht manchmal anachronistisch anmutenden Privatsphäre-Konzepten das Recht auf Geheimhaltung der eigenen Datenspuren einfordern, um die Gefahr, die durch Machtasymmetrien erwachsen könnte, präventiv abzufedern.

Wer den Kontrollverlust nicht nur als Phänomen beschreibt, sondern auch als ohnehin unaufhaltbar und (deswegen) wünschenswert zeichnet, macht es sich ganz einfach: zu einfach.

  1. Der demnächst in Tübingen einen Vortrag hält. An dieser Stelle: ctrl-Verlust und mspr0. Seine Blogs. Lesen.

Gedanken zum Kontrollverlust - beim wort genommen - weil eine Lüge über die ganze Welt laufen kann, bevor die Wahrheit ihre Stiefel angezogen hat*


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